Jetzt gehts bergab
Von Ursina Haller
Ich überhole jeden, der vor mir läuft. Die Turnschuhe schlagen auf den Schotterweg, der Schweiss perlt auf der Haut, die Limmat fliesst neben mir her. Wenn ich weiter vorne, vielleicht im Schatten der Linden, noch jemanden rennen sehe, erhöhe ich das Tempo. Intuitiv stosse ich den Körper nach vorne und ziehe an den Joggern vorbei.
Wenn Hobbysportler hinter mich zurückfallen, habe ich für einen Augenblick das Gefühl, immer noch das zu sein, was ich mein halbes Leben lang war: Spitzensportlerin.
Seit einem Mittwoch im April 2014 bin ich es nicht mehr.
An dem Tag stehe ich auf und mache Frühstück, Porridge mit Früchten. Beim Zubereiten rutscht mir die Packung mit dem Getreide aus der Hand, die Gedanken sind anderswo. Als ich die Nummer meines Trainers wähle, liegen immer noch Haferflocken auf dem Küchenboden. Doch ich will das jetzt hinter mich bringen, nicht länger nachdenken. «Ich trete zurück», sage ich mit bebender Stimme ins Telefon: «Das war meine letzte Saison im Nationalteam der Halfpipe-Snowboarderinnen.»
Weder der Trainer noch der Medienverantwortliche des Verbandes, den ich später anrufe, sind überrascht. Mehrfach habe ich ihnen geklagt, was mir nach dem Olympiawinter mit grosser Wahrscheinlichkeit bevorstehe: endlose Tage in der Bibliothek, ein ganzes Jahr lang, wegen einer Deadline an der Uni. Gesuche um eine Fristverlängerung für den Studienabschluss sind ausgeschlagen worden, und deshalb hoffe ich, dass mir jetzt jemand sagt: Tus nicht! Wir brauchen dich doch an den nächsten Olympischen Spielen!
Beide wünschen mir alles Gute für die Zukunft. Der Trainer sagt, dass meine Entscheidung richtig sei, auch aus sportlicher Sicht. Mit achtundzwanzig gehört man im Snowboarden zu den Alten, der körperliche Verschleiss in der Halfpipe ist beträchtlich. In den fünf Jahren im Schweizer Nationalteam habe ich mein Potenzial weitgehend ausgeschöpft. Ich beherrschte Sprünge der höheren Schwierigkeitsstufe, holte eine Silbermedaille an Weltmeisterschaften, stand zweimal im Olympia-Final, feierte Podestplätze im Weltcup. Um das zu übertreffen, müsste ich die Komfortzone dauerhaft verlassen, täglich mehr Risikobereitschaft zeigen, ich müsste besser trainieren, besser denken, besser essen, besser schlafen als die Konkurrentinnen.
Mit dem Medienverantwortlichen formuliere ich eine Pressemitteilung. Stunden später kann ich im Netz lesen, dass ich zurückgetreten bin. Erst jetzt, als das Telefon dauernd piept und der Bildschirm gute Wünsche für das neue Leben anzeigt, wird mir klar, dass ich soeben einen Schlussstrich gezogen habe. Jahrelang war ich Sportlerin, jetzt kann, ja muss ich jemand anderes werden. Ich spüre tatsächlich so etwas wie Vorfreude.
Bis hierhin ist mir nie in den Sinn gekommen, dass ich Schwierigkeiten haben könnte beim Übergang in das Leben nach dem Sport. Ich bin gut aufgestellt: Ich habe – zwangsläufig – einen Plan für das kommende Jahr, pflege Freundschaften ausserhalb der Snowboardwelt, bin in einer stabilen Beziehung und besitze genug Geld für zwei, drei Jahre.
Den ersten Tiefpunkt erlebe ich, als ich auf einem Parkplatz stehe und meinem Bruder drei Autoschlüssel in die Hand drücke. Hauptschlüssel, Ersatzschlüssel, Notfallschlüssel, alle in modernster Ausführung, versehen mit dem statusträchtigen Logo meines ehemaligen Sponsors. Jahrelang hat mein Bruder, der Autohändler, mir im Frühling ein neues Schlüsselset ausgehändigt, bevor er mir die ausgefallenen Funktionen des Wagens zeigte und mir nachwinkte, als ich davonbrauste. Dieses Mal bringt er mich zum Bahnhof, ich kaufe mir ein Halbtax. Als ich zwischen Studenten und picknickenden Familien im Abteil sitze und Wiesen mit weidenden Kühen vor den Fensterscheiben an mir vorbeiziehen, wird mir klar, wie mein neues Leben sein wird: normal.
Einige Wochen später stellt mich ein Professor als «berühmte Snowboarderin» vor. Ich würde am liebsten im Boden versinken, mir wäre es recht, wenn sich niemand an mich erinnern könnte. Ich stehe in einem Zimmer des Philosophischen Seminars der Uni Zürich, Stuck ziert die Decke, ein Dutzend Kolloquiumsteilnehmer hören zu, als ich die Ideenskizze meiner Lizenziatsarbeit vortrage. Ich rede von der kollektiven Vernunft, von den Philosophen Kant, Mill und Habermas. Von dem Stoff, den ich in den Tagen und Nächten seit Saisonende bearbeitet habe, eine Knochenarbeit war das, und trotzdem scheint mir das Thema schwerer als jede Hantel im Kraftraum. Als ich fertig bin, bleibt es still im Publikum – so still, wie die Zuschauer auf der Tribüne jeweils waren, wenn ich bei einem Sprung in der Halfpipe heftig gestürzt war. Auf das Schweigen folgen Fragen, die ich nicht beantworten kann.
Später setze ich mich in einen Park und schaue zu, wie der Wind die Baumwipfel zum Schwanken bringt. Tränen fliessen mir über das Gesicht, als ich darüber nachdenke, was aus mir werden kann in diesem Leben. In diesem normalen Leben, das schon wieder Spitzenleistungen verlangt, auf dessen Rangliste ich jedoch ganz unten stehe.
Die Chancen, dass ich den Übergang in die Nachsportkarriere gut meistere, stehen eigentlich gut. Sagt die Sportpsychologin Erika Ruchti, die das Thema Rücktritt vom Spitzensport am Bundesamt für Sport wissenschaftlich untersucht und einen Leitfaden für die psychologische Betreuung von Zurücktretenden entwickelt hat. Als ich mit ihr telefoniere, lässt sie mich schätzen, wie viele ehemalige Athletinnen Anpassungsprobleme bekunden. Ich rufe in den Hörer: «Alle!» Denn wann immer ich mich mit ehemaligen Sportlern unterhalte, kommen wir auf die Herausforderungen des Rücktritts zu sprechen. Das Thema lässt eine unmittelbare Verbundenheit zwischen früheren Snowboarderinnen, Kunstturnern, Ruderern oder Leichtathletinnen entstehen – so wie man sie nur spürt, wenn man Gleiches durchgestanden hat.
Die Sportpsychologin Ruchti sagt: «Bei den meisten ist es beides. Einerseits sind die Athletinnen und Athleten traurig, dass dieser Lebensabschnitt zu Ende ist, andererseits sind sie auch froh, dass sie diesen ständigen Druck los sind und neue Entwicklungsmöglichkeiten haben.» Lediglich fünfzehn bis zwanzig Prozent der Sportler würden schwerwiegende Anpassungsprobleme bekunden.
Aber was heisst schwerwiegend? Wenn man folgende vier Fragen mit Ja beantwortet:
Erstens: Hast du die Karriere unfreiwillig beendet? Wer aufgrund von äusseren Umständen – etwa durch eine Verletzung – zum Aufhören gezwungen wird, hat tendenziell mehr Mühe mit dem Rücktritt.
Zweitens: Hast du deinen Selbstwert vor allem aus dem Sport gezogen? Wichtig ist, dass der Rücktritt keinen dauerhaften emotionalen Stress auslöst. Das kann beispielsweise vorkommen, wenn man über eine reine Sportleridentität verfügt und den gesamten Selbstwert aus dem Sport schöpft.
Drittens: Hast du das Gefühl, es hätte sportlich mehr dringelegen? Entscheidend ist, ob jemand zufrieden ist mit der sportlichen Laufbahn. «Je zufriedener eine Athletin mit der eigenen Karriere ist, desto besser gelingt der Rücktritt», sagt Ruchti.
Viertens: Hast du dich während deiner Laufbahn ausschliesslich auf den Sport konzentriert? Die rechtzeitige Planung des Übergangs in den Nachsport ist wichtig: «Wer sich im Vorfeld damit auseinandergesetzt hat, hat es deutlich leichter als jemand, der unvorbereitet in das Leben danach startet.»
So weit, so gut. Glaube ich Ruchti und den von ihr zitierten Studien, sollte ich den Übergang in den Nachsport schaffen.
« Mein halbes Leben lang war ich Spitzensportlerin. Seit einem Mittwoch im April 2014 bin ich es nicht mehr. »
Nach meinem Rücktritt verbringe ich den Sommer zum ersten Mal seit Jahren in der Schweiz und reise nicht für den Saisonauftakt nach Neuseeland. Ich geniesse die Sandalen an den Füssen und die Freiheiten des Studentenlebens. Manchmal kann ich mein Glück kaum fassen: Ich stehe auf, wann ich will, fahre in die Bibliothek, und danach muss ich nur dasitzen und lesen. Keine Trainings im Morgengrauen, keine Verletzungsgefahr, keine kalten Zehen. Und niemand schaut mir dabei zu! Da steht kein Coach mehr, der mich nach jedem Lauf kritisiert. Wenn ich einen Fehler mache, steht das Resultat später nicht in der Zeitung. Das Leben als Studentin kommt mir entspannt vor und manchmal geradezu unwirklich.
Ein paar Monate sind vergangen seit meinem Rücktritt, und ich stehe abends auf einer Dachterrasse, ein Glas Sekt in der Hand. Eine Freundin feiert ihren Dreissigsten, endlich kann auch ich dabei sein. Endlich kann ich Einladungen zusagen und sie dann auch wahrnehmen – das Diktat der Trainingspläne ist Vergangenheit. Ich stehe also da, wir stossen an und essen Kuchen, und ich lerne neue Leute kennen. Die unvermeidliche erste Frage fällt. Früher habe ich mich meistens auf sie gefreut, denn ich hatte eine gute Antwort parat.
Und, was machst du so?
Jetzt aber fühle ich mich unfassbar klein, als ich einer gleichaltrigen Architektin und einer PR-Beraterin gegenüberstehe und meine Antwort formulieren muss. Ich bin: Studentin, im 20. Semester. Das schockiert mich mindestens so sehr wie mein Gegenüber. Das Bild der ziellos durch ihre Zwanziger schlendernden Studentin widerspricht so ziemlich allem, wofür ich als Sportlerin stand: Zielstrebigkeit, Disziplin, Ausdauer, Belastbarkeit. Ich komme mir vor wie ein Luftballon, der steil in den Himmel gestiegen ist, dann aber in den Ästen eines Baumes hängen blieb, und dem jetzt langsam die Luft ausgeht. Mit neunundzwanzig weiss ich immer noch nicht, was es heisst, morgens in einem Büro zu erscheinen, ich weiss nicht, wie Sitzungen ablaufen oder wie man einen Kopierer bedient. Wirklich Ahnung habe ich nur, wenn es um Sport geht. Erst jetzt merke ich, dass der Preis, den ich für meine Sportkarriere bezahle, nicht in den Entbehrungen der vergangenen Jahre liegt, sondern in all den Dingen, die ich im Leben danach erst lernen muss.
«Viele Sportlerinnen und Sportler unterschätzen die Herausforderungen, die der Rücktritt mit sich bringt», sagt Daniela Torre. Die ehemalige Synchronschwimmerin ist Laufbahnberaterin bei Swiss Olympic und unterstützt zurückgetretene Athleten beim Übergang in die Nachsportkarriere. «Wenn sie mit den Realitäten der Arbeitswelt konfrontiert werden, haben viele irgendwann das Gefühl, dass die Jahre im Sport Zeitverschwendung waren.» Die Zurückgetretenen merken, dass sie fachlich hinterherhinken, zugleich verlieren sie die Anerkennung, die ihnen früher zuteil wurde. «Sie haben das Gefühl, niemand mehr zu sein, und fragen sich, wozu sie den jahrelangen Aufwand betrieben haben. Dann geht es darum, ihnen zu zeigen, dass die Trennung zwischen dem Leben vor und dem Leben nach dem Sport nicht absolut ist, dass sie aus der Sportkarriere vieles mitnehmen, das auch im neuen Lebenskontext hilft.»
Aber was genau kann ich eigentlich?
«Diese pauschale Idee, die Sportlerin könne dies und das, gilt da eben nicht. Inwiefern der Sport jemanden formt, ist sehr individuell. Es kommt darauf an, woher der Athlet kommt», sagt Torre. Eine Sportlerin, die zweihundert Tage im Jahr in einem Team unterwegs gewesen war, nimmt komplett andere Qualitäten mit als jemand, der jahrelang am selben Ort trainierte und einem straff organisierten Training folgte. Ebenso unterschiedlich sind die Ausbildungen, die die Zurückgetretenen vorweisen können. Eine Studie der Universität Bern zeigt, dass knapp achtzig Prozent der Schweizer Profisportlerinnen bei Karriereende einen Abschluss auf Sekundarstufe 2 haben. Viele nehmen erst nach dem Rücktritt ein Studium in Angriff: Rund vierzig Prozent der Profisportler erhöhen ihr Ausbildungsniveau nach dem Rücktritt von der Sekundar- auf die Tertiärstufe.
Zurück in den März 2014, wenige Wochen vor meinem Rücktritt: mein letzter Wettkampf, das US Open of Snowboarding in Vail, Colorado. Die Halfpipe glänzt glasig in der Morgensonne, als ich mich aufwärme. Dann hole ich tief Luft, bringe mein Brett mit einem kleinen Sprung in Position und fahre los. Jetzt oder nie, denke ich, als ich den Fahrtwind im Gesicht spüre. Im Hintergrund höre ich «Happy» von Pharrell Williams durch die Lautsprecher bimmeln. Beim letzten Sprung lande ich zu tief und greife in den Schnee. Ich werde Siebente.
Später am Abend, im Hotelzimmer, lade ich mir das Lied von Pharrell Williams auf das Handy. Dann schreibe ich in mein Notizbuch:
Lessons learned in snowboarding:
Arbeite akribisch, aber bleib locker
Einsatz = Erfolg
Kritik bringt dich weiter
Be happy!
Wie viele Profisportlerinnen in der Schweiz jedes Jahr zurücktreten, ist nicht bekannt. Das sagt mir Daniela Torre. Sie schätzt die Zahl auf sechzig bis siebzig, nur rund zehn melden sich jeweils bei ihr.
«Athleten sind in ihrem Sport Experte und in ihrem Bereich äusserst befähigt, sie gehören zu den Allerbesten. Da fällt es vielen schwer, sich nach dem Rücktritt einzugestehen, dass das jetzt nicht mehr so ist und dass sie Unterstützung brauchen.» Allgemein funktioniere das Rücktrittsmanagement in der Schweiz nicht besonders gut. Niemand fühle sich verantwortlich. «Eigentlich ist es Aufgabe der Verbände, ihre Athletinnen, die jahrelang für sie Leistungen erbracht haben, beim Schritt in das neue Leben zu unterstützen.» Das geschehe allerdings nur teilweise, und so fühlten sich einige Zurückgetretene allein gelassen, auch weil sie nicht wüssten, dass es bei Swiss Olympic eine Laufbahnberatung gebe. «Dass wir so weit weg sind von den Athletinnen und Athleten, ist ein Problem. Wir erfahren meist nur aus Medienmitteilungen, dass jemand zurückgetreten ist, und können uns dann bei der Person melden», sagt Torre. Ausserdem gelte das Angebot nur für Athletinnen, die ihren Sport auf höchstem Niveau bestritten haben. «Nachwuchssportler, die alle Kräfte in den Sport investiert haben, dann aber frühzeitig zurücktreten, fallen durch das System. Das ist problematisch: Jugendliche, deren ganzes Selbstbild auf dem Sport aufbaut, fallen möglicherweise in eine schwere Identitätskrise, wenn sie aufhören.»
Mit den Athletinnen, die sich melden, macht Torre zuerst eine Standortbestimmung. Es geht darum herauszufinden, welche Themen nach dem Rücktritt wichtig sind. Häufig sieht sie Sportler, die noch gar nicht bereit sind, einen Laufbahnentscheid zu treffen. «Zum Beispiel, wenn jemand seine Ziele nicht erreicht hat und etwa durch Deselektion zum Aufhören gezwungen wird. Dann dominiert das Thema des Scheiterns so stark, dass es erst einmal abgearbeitet werden muss», sagt Torre. Aber es gibt auch Athletinnen, die nach dem Rücktritt sofort eine neue Herausforderung brauchen. «Einem Sportler, der jahrelang einem rigiden Trainingsplan folgte, fällt es nach dem Rücktritt vielleicht schwer, plötzlich so viele Freiheiten zu haben, er braucht so schnell wie möglich neue Strukturen.» Für zur Selbstständigkeit erzogene Sportlerinnen hingegen sei es unmöglich, von einem Tag auf den anderen acht Stunden am Stück in einem Büro zu sitzen. «Nach zwei, drei Jahren geht das vielleicht. Aber vorher nicht.»
Eine Mehrzahl der Athleten, die Torre berät, haben jedoch keine Wahl. Sie kontaktieren die Arbeitspsychologin, weil sie finanziell unter Druck stehen, einen Job brauchen. Sportlerinnen, deren Sponsorenverträge mit dem Rücktritt auslaufen, muss Torre helfen, rasch eine Arbeitsstelle zu finden. Nur in Sportarten wie Kunstturnen oder Fussball, wo die Athleten einen Anstellungsvertrag bei einem Verband oder einem Verein hatten, kann man sich arbeitslos melden, für alle anderen gibt es keine Übergangslösung. «Diese Leute sind froh um jeden Job», sagt Torre.
Als ich zurücktrete, weiss ich um das Angebot von Swiss Olympic. Doch ich denke nicht daran, Daniela Torre zu kontaktieren. Ich sage mir: Das werde ich wohl noch schaffen! Die Beratung ist für Problemfälle, nicht für mich.
Dabei läuft meine Verwandlung von der Spitzensportlerin zur regulären Arbeitskraft alles andere als reibungslos. Vor allem kämpfe ich mit einem banalen Problem: Ich habe Mühe, mich an den kalorischen Umsatz eines sitzenden Menschen zu gewöhnen. Als ich in der Bibliothek hocke, einen Stapel Bücher vor mir, brummt mir ständig der Magen, obwohl die letzte Zwischenmahlzeit erst vor Kurzem dort angekommen ist. Erst nach einigen Monaten schaffe ich es, vier Stunden am Stück ohne Essen auszukommen.
Sport treibe ich beinahe täglich, obwohl ich nicht mehr muss. Häufig absolviere ich gleich nach dem Aufstehen die Übungen, die früher der Vorbereitung für den Tag im Schnee dienten. Ich spule sie ab wie ein Roboter, immer noch ist jede kleine Bewegung automatisiert. Trainiere ich einmal mehrere Tage am Stück nicht, beginnt der Körper zu schmerzen, ich fühle mich schlaff und weich, wie ein Nussgipfel, der zu lange auf der Theke liegen blieb.
Meine Mentaltrainerin hat mich lange vor dem Rücktritt davor gewarnt, was geschehen wird, wenn ich mein Sportpensum dereinst drastisch reduzieren würde. Sie meinte damit nicht die paar Kilo, die ich zunehmen würde. «Sie müssen aufpassen, dass Sie nicht in ein emotionales Loch oder sogar eine Depression fallen», sagte sie, «auch Ihr Gehirn muss sich an die Umstellung gewöhnen.»
Bei den Fahrten durch die Halfpipe, aber auch beim täglichen Trockentraining setzte mein Gehirn haufenweise Botenstoffe frei: Serotonin, Dopamin, Adrenalin, Noradrenalin. Ein grandioser Vorgang, denn diese Stoffe versorgten mich reichlich mit jener Art von Gefühlen, nach denen der Mensch mit allen möglichen Mitteln strebt – pure Begeisterung, unbändige Freude, Glück. Häufig habe ich mich gefragt, wie mir eine einzige, eigentlich bedeutungslose Tätigkeit wie Snowboarden so gefallen kann, dass ich ihr meine ganze Zeit widme. Die Antwort liegt wohl auch in diesem perfekt angerührten Gefühlscocktail.
«Im Spätherbst schnalle ich mir zum ersten Mal wieder das Snowboard an die Füsse. Es fühlt sich an, als würde ich nach einer langen Reise nach Hause kommen.»
An einem Sommertag 2014 spüre ich das Brennen in der Brust wieder, das ich immer empfunden habe, als ich mit dem Snowboard die Kante entlangfuhr, den Körper nach vorne fallen liess und mich an einem Wettkampf in die Halfpipe stürzte. Ich stehe im Startgelände des legendären Berglaufs Sierre–Zinal, mir stehen 31 Kilometer und 3300 Höhenmeter bevor, und ich tanze nervös von einem Bein aufs andere. Der Startschuss fällt, zusammen mit den anderen Teilnehmerinnen laufe ich los. In den folgenden fünf Stunden spüre ich jeden Muskel am Körper. Ich renne, keuche, schwitze, während die Gedanken immer wieder in die Halfpipe wandern. Ich erinnere mich an meinen ersten Wettkampf, daran, wie der Speaker jeweils meinen Namen rief, als ich losfuhr, und wie es sich anfühlte, wenn mir ein Lauf gelang oder auch nicht. Wie einen Film lasse ich meine Zeit als Snowboarderin noch einmal abspulen, während ich einen Fuss vor den anderen setze. Vom Wegrand her rufen sie: «Allez, allez!», ich gerate tatsächlich in eine Art Aufbruchsstimmung. Während ich laufe und sich der Schmerz in meinem Körper ausbreitet, habe ich das Gefühl, alles schaffen zu können. Als ich mich mit völlig übersäuerten Beinen ins Ziel schleppe, bin ich überzeugt, dass ich es auch im normalen Leben packen werde. Später schaue ich zu, wie den Spitzenläuferinnen die Medaillen überreicht werden, und bekomme Gänsehaut.
Im Spätherbst schnalle ich mir zum ersten Mal wieder das Snowboard an die Füsse. Es fühlt sich an, als würde ich nach einer langen Reise nach Hause kommen. Als ich losfahre, lasse ich den Blick über dieselben Bergkämme schweifen, ich höre das vertraute Geräusch, das die Kanten machen, wenn sie sich in den Schnee graben, habe den Geruch von ungetragener Winterkleidung in der Nase. Alles ist, wie es immer war. Als ich durch die Halfpipe fahre, geht es von allein, so wie wenn man lange Zeit nicht auf dem Fahrrad gesessen ist und es trotzdem noch kann, ohne nachzudenken. Beim Anstehen am Lift umarme ich ehemalige Teamkolleginnen, sie sind fürs Training angereist. Wie immer verwenden wir unser für Aussenstehende unverständliches Vokabular, so wie Freunde sich eben unterhalten, wenn sie zu viel Zeit in der Gruppe verbringen. Niemand fragt mich, wie das Leben nach dem Sport ist. Der Rücktritt ist im Nationalteam kein Thema. Es ist wie auf einer Klassenfahrt, auf der man nicht über den bedrohlich näher kommenden Schulalltag spricht. Athleten und Betreuerinnen blenden im Kollektiv aus, dass die Reise für jeden Einzelnen von ihnen früher oder später zu Ende ist.
Das nächste Mal sehe ich meine ehemaligen Teamkollegen auf einem Bildschirm. Draussen ist es kalt, neben mir in der Bibliothek lernen dieselben Leute wie jeden Tag, mehr als ein paar Worte haben wir nie gewechselt. Vor mir auf dem Laptop springen meine Freunde durch die Luft; es sind Weltmeisterschaften, und ich will bloss keinen Lauf verpassen. Ein seltsamer Gefühlsmix erfasst mich. Im einen Moment finde ich es schade, nicht dort zu sein – der Wettkampf scheint mir mittelmässig, ich hätte wohl mithalten können. Im nächsten Moment bin ich einfach nur froh, auf einem bequemen Stuhl zu sitzen, in der Gewissheit, dabei nicht meine Gesundheit zu riskieren. Bald bedauere ich, das Spektakel zu verpassen, bald spüre ich eine Genugtuung, vor den anderen ins neue Leben gestartet zu sein. Wenn ihr wüsstet, was noch alles auf euch zukommt, denke ich, als meine früheren Konkurrentinnen in die Kamera lachen.
Im Frühling ertappe ich mich beim Gedanken, wie es wäre, wieder eine von ihnen zu sein. Zum ersten Mal in meinem Leben verfasse ich ein Curriculum Vitae. Darin steht, dass ich jetzt ein abgeschlossenes Studium habe. Ich hatte mich für das Fach Politische Philosophie entschieden, weil ich verstehen wollte, wie sich eine Gesellschaft bestenfalls organisieren lässt, und weil ich mich mit Fragen auseinandersetzen wollte, die über das auf Selbstverwirklichung fixierte Sportlerdasein hinausgehen. Diesen Anspruch in den Untiefen der Arbeitswelt in ein konkretes Ziel zu übertragen, fällt mir jedoch schwer. Ich finde kein einziges Stelleninserat, auf das ich mich mit guten Aussichten bewerben könnte.
Wie einfach es dagegen wäre, ins alte Leben zurückzukehren! Drei, vier Monate Training – ich wäre wieder dabei. Mein Leben wäre wieder unter Kontrolle, ich wüsste genau, woran ich arbeiten muss, hätte endlich wieder einen fixen Platz, und ich würde mehr Geld verdienen als in jedem Praktikum. Ausserdem könnte ich sportliche Herausforderungen jetzt mit der Gelassenheit einer Realistin angehen – die Auszeit vom Snowboarden zeigte mir zur Genüge, wie nebensächlich mein Sport eigentlich ist. Plötzlich verstehe ich alle, die ein Comeback gegeben haben. Michael Jordan, Martina Hingis, Michael Phelps, viele mehr.
«Viele Athleten haben im Nachhinein das Gefühl, zu früh zurückgetreten zu sein», sagt Andreas Küttel. Küttel, 39, gehört zu den erfolgreichsten Skispringern der Schweiz. Nachdem er 2011 den Rücktritt gegeben hatte, schrieb er eine Dissertation über das Thema. Titel: «A Cross-Cultural Comparison of the Transition out of Elite Sports». Küttel war aufgefallen, dass der Übergang vom Sportler – ins normale Leben in gewissen Ländern leichter gelingt, und so befragte er 230 zurückgetretene Athletinnen und Athleten aus der Schweiz, Dänemark und Polen. «Den polnischen Sportlern fällt der Rücktritt am schwersten», sagt Küttel. «Sie nehmen den Rücktritt am ehesten als Verlust wahr. Spitzensportlerinnen haben dort einen enormen Status, sportlicher Erfolg geht einher mit sozialem Aufstieg. Plötzlich ist das alles weg, und sie fallen in ein Loch.» Generell sei es so, dass sehr populäre oder durch den Sport reich gewordene Athleten beim Übergang vom Sport- ins normale Leben häufiger Schwierigkeiten bekundeten. In der Schweiz, wo der Sport gesellschaftlich eine untergeordnete Rolle spiele und viele Athletinnen gezwungen seien, bereits während der aktiven Zeit nebenher zu arbeiten, verlaufe der Prozess häufig weniger spektakulär. Im Durchschnitt fühlten sich die Sportler nach etwa einem Jahr wohl in der neuen Rolle.
Auch er selber habe den Rücktritt gut verkraftet, sagt Küttel. «Natürlich gab es Phasen, in denen ich mich fragte: Was mache ich hier überhaupt? Wo soll es hingehen? Ich hatte immer wieder Zweifel, ob alles gut kommt.» Er hatte sich schon während der aktiven Zeit darum bemüht, ein Netzwerk aufzubauen. Er sass in der Athletenkommission des Internationalen Skiverbands und war Botschafter einer Sportstiftung – in der Hoffnung, dass ihm das später den Berufseinstieg erleichtern würde. «Man muss ja nicht zwingend in eine Welt eintauchen, in die man nicht passt. In der Schweiz bleiben dreissig Prozent der Zurückgetretenen in der Sportbranche. Das macht Sinn, denn dort können sie ihre Stärken wieder einsetzen.»
Athletinnen konzentrieren sich seit ihren Jugendjahren aufs Training, sie sind auf die Leistung des Körpers fixiert, tüfteln am Material. Wer an die Spitze will, muss sämtliche andere Interessen beiseite schieben. Ein ehemaliger Spitzensportler, der Historiker werden will, hat einiges aufzuholen. Auch als Trainer oder Physiotherapeut muss er sich fachlich weiterbilden, aber er kann auf jahrelange praktische Erfahrungen zurückgreifen. Küttel sagt: «Das Wichtigste ist, dass man eine Herausforderung findet, bei der man das Gefühl hat, wieder etwas bewegen zu können.»
Sommer 2016. Die Gedanken an ein Comeback habe ich hinter mir gelassen. Selbst wenn ich es noch ein paarmal auf das Podest schaffen würde – die Wirklichkeit wäre damit nur auf morgen verschoben. Nichts im Spitzensport ist so unumstösslich wie die Tatsache, dass irgendwann Schluss ist. Das ist hart, hat aber auch Vorteile. Als Sportlerin durfte ich dadurch frühzeitig lernen: Glück zehrt nicht nur von aufregenden Botenstoffen und grossen Erfolgen, sondern vor allem auch von einem Bewusstsein für die verrinnende Zeit.
Beim Snowboarden vergass ich die Welt um mich herum. Ich konnte Hunderte Male dieselben Bewegungen üben, ohne dass mir auch nur ansatzweise langweilig wurde. Es war wie ein Spiel, in dem ich mich wieder und wieder selber herausforderte und das mich nicht losliess, auch wenn längst Feierabend war.
Es gibt nur eine Tätigkeit, die Ähnliches bei mir auslöst: das Schreiben. Ich schicke mein Curriculum Vitae an eine grosse Schweizer Tageszeitung, für die ich während meiner Zeit als Snowboarderin einen Blog geführt habe.
Ein halbes Jahr später sitze ich im Newsroom und formuliere eine Kurzmeldung. Es geht um Krankenkassentarife, ein sperriges Thema. Ich schwitze und spüre das Brennen in der Brust. Einen Text abzuschliessen, fällt mir nicht leicht. Es gibt stets noch etwas zu verbessern, und mache ich einen Fehler, steht er am nächsten Tag in der Zeitung.
Gierig sauge ich das Feedback meines Betreuers auf, und manchmal denke ich an meinen früheren Coach.
Einmal in der Woche trainiere ich mit der Laufgruppe der Zeitung. Ich lerne neue Leute kennen, einige von ihnen laufen schnell. Ich versuche nicht, sie zu überholen. Als die gleichaltrige Auslandsredaktorin keuchend fragt, was ich bin, antworte ich: «Volontärin. Aber ich war einmal Profisnowboarderin.»