Ein Tag im Leben
Dominique Gisin: Jazz-Dance, Astrophysik, Müesli
Mein Tag sieht heute ganz anders aus als damals, als ich noch Sportlerin war. Aber eins ist geblieben: Die Nacht hat für mich eine reinigende Wirkung. Als Skifahrerin kämpfte ich manchmal einen ganzen Tag lang mit einem technischen Problem, und erst als ich darüber geschlafen hatte, konnte der Körper es lösen und richtig umsetzen. Auch heute wache ich meistens sehr früh auf, manchmal bin ich schon um 5.30 Uhr aus dem Bett. Meine Gedanken wecken mich – etwa ein Experimentbericht oder eine Übungsserie, die ich für das Physikstudium fertig stellen muss. Mir kommt dann in den Sinn, dass ich eine Aufgabe falsch gelöst habe, und ich kann nicht anders, als aufzustehen und sie zu korrigieren. Das ist oft das Erste, was ich mache: Ich sitze im Pyjama am Pult und grüble an einer Aufgabe.
Danach trinke ich einen Kaffee, frühstücke und fahre mit dem Velo zur ETH. Zwei bis drei Mal die Woche gehe ich dort morgens zum Sport, damit ich nicht völlig einroste. Ich mache Jazz-Dance oder Yoga, rudere oder gehe mit einer Freundin ins Gym. Ich trainiere nie alleine, und ich folge keinem Trainingsplan. Ich mache Sport, weil es mir Spass macht und weil ich nicht den ganzen Tag vor meinen Aufgaben oder dem Computer sitzen will. Gleich nach dem Rücktritt hatte ich ziemlich Mühe: Mein Körper war sich nicht gewohnt, so viel zu sitzen, und ich bekam Rückenschmerzen.
Der Sport hat mir auch geholfen, an der ETH Leute kennenzulernen. Am Anfang war das nicht so einfach, viele hatten Respekt vor mir und getrauten sich nicht, mit mir zu reden. Das fand ich zwar herzig, aber irgendwann fragte ich mich, ob mit mir etwas nicht stimmt, weil ich nicht sofort Anschluss fand. Aber ich bin halt eine Exotin: Ich bin mit Abstand die Älteste in meinem Studiengang, und dann war ich auch noch Skifahrerin.
Mittlerweile frühstücke ich nach dem Sport aber oft mit Kolleginnen und Kollegen an der ETH. Dann stehen Vorlesungen in Fächern wie Festkörperphysik, Astrophysik und Elektrodynamik auf dem Programm. Festkörperphysik gefällt mir besonders gut, das ist ziemlich straightforward. Wir untersuchen die Struktur von festen Stoffen und fragen: Warum passiert etwas? Warum ist ein Stoff elektrisch geladen oder magnetisch, warum ist er ein Metall und kein Isolator? Ich finde es spannend, den Sachen auf den Grund zu gehen.
Ich bin nun im fünften Semester, deshalb habe ich nicht mehr ganz so viele Vorlesungen – und mir bleibt Zeit für anderes. Ich habe einen Assistenzjob an der ETH, nachmittags leite ich eine Übungsstunde für Maschinenbaustudent_innen der unteren Semester. Das mache ich auch, weil ich selber am meisten lerne, wenn ich anderen etwas beibringe.
Nach dem Olympiasieg erhielt ich viele Anfragen von Firmen, die wollten, dass ich einen Vortrag über meine Erfahrungen als Spitzensportlerin halte. Ich sollte erzählen, wie ich mich immer wieder aufgerafft habe, trotz all den Verletzungen und Rückschlägen. Mittlerweile mache ich das regelmässig: Ich fahre nach der ETH zu Firmen und halte zusammen mit meinem ehemaligen Mentalcoach ein Motivationsreferat. Es soll den Leuten etwas für ihren Alltag mitgeben, auch wenn sie nichts mit Spitzensport zu tun haben.
Jetzt, wenn die Wettkampfsaison beginnt, vermisse ich das Skifahren am meisten. Ich sehe auf Instagram, dass meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen auf der Piste sind, und es kribbelt in mir. Aber ich weiss, dass diese Kapitel für mich zu Ende ist: Für mich gibt es ja keine Rennen mehr.
Dieses Gefühl wird immer schwächer, es ist schon weniger stark als noch vor einem oder zwei Jahren. In diesem Semester hat es mich aber auch erstmals so richtig gepackt an der ETH. Erst jetzt lerne ich mit derselben Motivation, mit der ich früher das Training absolviert habe.
Am Abend esse ich in meiner kleinen Wohnung Znacht, meistens nicht viel, nur ein Müesli oder so. Dann schaue ich, wie viel Energie ich noch habe. Wenn sie stimmt, löse ich Physikübungen – manchmal bis in die Nacht hinein.
Protokoll: Ursina Haller