Plan B
Doppelbürger
Von Bruno Ziauddin
Zum besseren Verständnis meiner Lage zunächst folgende Information: Ich bin der Sohn eines Südinders und einer Schweizerin, habe eine französische Grossmutter, wurde in Ghana gezeugt und besitze den britischen sowie den Schweizer Pass.
Heute mag das nichts Aussergewöhnliches mehr sein. Anfang der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts empfand man sowas jedoch als ziemliches Chrüsimüsi. «Man» sowieso, aber auch ich selbst. Umso identitätsstiftender war es zu wissen: Ich bin ein in Zürich geborener Zürcher, und Zürich ist das Beste, was die Schweiz und nach damaligem Kenntnisstand die Welt zu bieten haben, und der Zürcher Schlittschuhclub, dem ich von Rang 3 des Hallenstadions durch den Zigaretten-, Zigarren- und später Cannabisnebel hindurch meine unverbrüchliche Unterstützung aufs Eis hinab schrie, dieser ZSC ist der beste Eishockeyverein der Schweiz und der Welt sowieso, und in der wichtigeren, da selbst betriebenen Sportart Fussball existieren zwei Vereine: Zum einen meine Young Fellows Zürich, damals Liftverein zwischen 1. Liga und Nationalliga B, bei den Junioren aber Top of the Pops. Zum anderen, nein, ganz bestimmt nicht die Grasshoppers, schliesslich wohnten wir in einer kleinwüchsigen Appartementwohnung, wo ich bis zum verdammten zwölften Lebensjahr das Zimmer mit den Eltern zu teilen hatte, während GC der Klub aller Vorgesetzten, Segelbootbesitzer und sonstigen Golfspieler war. Jenes GC auch, das an einem Uefa-Cup-Match, woran ich einfach nicht aufhören zu denken konnte, von englischen Fans auf ebenso effiziente wie infantile Weise verhöhnt worden war, indem nämlich diese Fans auf einem Transparent den Namen «Grasshoppers» in einer um die beiden ersten Buchstaben gekürzten Fassung wiedergaben.
Nein, natürlich nicht GC, sondern FCZ. Karli Grob, Köbi Kuhn, Peter Risi, Illja Katic, René Bo!-Bo!-Botteron! Doppel-Cöp-Sieger 1972 und 1973.
Dann trat Mäse in mein Leben.
Mäse war eines Tages in unser Mietshaus gezügelt. Weil seine Familie zwei Appartements bezog, brauchte er das Zimmer nicht mit den Eltern zu teilen, sondern nur mit seinem Bruder, was er als mindestens so störend empfand. Mäse war mehr als drei Jahre älter als ich – ein halbes Leben. Er wurde mein allerbester Freund. Um sich in meiner Gegenwart nicht allzu sehr zu langweilen, brachte er mir das Nötigste bei: Schuhe binden, Quartett spielen, ergo Zahlen bis 10’000 lesen (3750 U/Min; Hubraum: 1699cm3), Federball, Tischtennis, Aussenristpässe.
Cöp-Sieger?, höhnte Mäse. Wir sind Meister! Das ist das einzige, das zählt.
Aber wir haben Köbi Kuhn.
Mäse: Das ist der zweitbeste Fussballer der Schweiz. Wir haben den besten!
Unser Goalie…
…ist eine Pumpi. Wir haben den Nationalgoalie!
Mäse war Fan des FC Basel. Das war die Mannschaft, die, soweit ich zurückdenken konnte – also mindestens zwei Jahre –, immer und immer Meister wurde. Und im Europacöp durch ehrenvolle Niederlagen glänzte, die ehrenvoller kein anderes Schweizer Klubteam hinbekam.
Mäse war, wie gesagt, mehr als drei Jahre älter als ich. Er war, nach meinen Eltern und vor meinen Grosseltern, der wichtigste Mensch im meinem Leben. Dennoch widerstand ich während vieler Wochen und Monate seinen Frotzeleien und Attacken auf meinen FCZ. Bis wir eines Tages zusammen in den Letzigrund gingen, Zürich gegen Basel, Kuhn gegen Odermatt. An das Resultat kann ich mich nicht erinnern, nur daran, dass Basel wieder einmal gewann. Und natürlich an den Satz, den ich nach dem Schlusspfiff zu Mäse sagte: «Du, ich werde glaub auch langsam Basel-Fan.»
Die nächsten plusminus vierzig Jahre sind rasch erzählt: Ich hielt dem FCB die Treue – Absturz in die Nationalliga B hin, grüne Trams und spezieller Dialekt her. Identitätstechnisch eröffneten sich dadurch weitere reizvolle Konstellationen: Ein undefinierbar unschweizerisch aussehender Bub, der eindeutig definierbares Zürichdeutsch spricht und mit rotblauem Trikot in der Muttenzer Kurve steht?
Den Basel-Fans gefiel das – es gab also in dieser an einer Flussattrappe namens Limmat gelegenen Bankierssiedlung Menschen mit Verstand und Geschmack. Mir wiederum gefiel, dass die Basler den Fussball ernster zu nehmen schienen als die Zürcher, ihn zugleich mit mehr Humor und Esprit kommentierten, was damit zusammenhing, so legte ich es mir später zurecht, dass sich in Basel auch Lehrer und Intellektuelle für Fussball begeisterten, während dasselbe Milieu in Zürich die Sportart für den Hundehaufen der Freizeitgestaltung hielt.
Wenn ich nach Basel an ein Spiel fuhr, passte ich mich an, darin hatte ich als Sohn eines Dunkelhäutigen ja Übung. Am Wurststand bestellte ich einen «Chlöpfer», auch wenn ich nie ganz verstand, warum die Baslerinnen und Basler einem kommunen Cervelat nicht einfach Cervelat sagen konnten.
Aus heutiger Sicht könnte man meinen: Der hat das schlau gemacht – ein wenig so wie jene, die in den Achtzigerjahren Microsoft-Aktien gekauft haben –, sein Verein wird immer Meister, und international muss er sich nicht schämen wie sonst eigentlich jeder andere Fan jedes anderen Schweizer Vereins.
Aus damaliger Sicht gilt es allerdings festzuhalten, dass ich, um es Sportdeutsch zu formulieren, den richtigen Zeitpunkt für meinen Rücktritt als FCZ-Fan verpasst hatte. Zwar wurden wir – und mit «wir» ist jetzt der FCB gemeint – noch zweimal Meister. Ich war beide Male dabei: 1977 beim Entscheidungsspiel gegen Servette vor 50’000 Zuschauern im Wankdorf. Und 1980 beim 4:2 gegen den FCZ im Letzigrund. Nach dem Spiel lief ich mit den Baslern triumphierend Richtung Bahnhof, obwohl mein Heimweg in umgekehrter Richtung lag.
Ansonsten fiel mein Vereinswechsel ausgerechnet in jene Phase, in der der FC Zürich dreimal hintereinander die Meisterschaft gewann. Danach war während gefühlten Jahrzehnten der Segelbootbesitzerclub dran. Kam hinzu, dass ich mich auch ungeachtet der jeweiligen Resultat- und Tabellenlage immer mal wieder fremd im eigenen Fankörper vorkam, denn eben: Zwar wusste ich nicht so recht, zu wie vielen Prozent ich mich als Schweizer, Inder, Franzose oder Brite zu fühlen hatte, aber Hundertprozent Züri: Das stand fest.
Und dann gab es natürlich die Momente, in denen mir meine Zürcher Umgebung die Vereinsfahnenflucht heimzahlte. Mit unübertroffener Vehemenz an dem Abend, als einem im Dienste des FCZ stehenden Rumänen mit der Aura eines Rausschmeissers in letzter Sekunde der Ball vor die ansonsten eher ungeschickten Füsse fiel, woraufhin sein Verein statt meiner Schweizer Meister wurde.
Weil ich zu Renitenz und Insubordination neige, bestärkten mich solche Erlebnisse in meiner unverbrüchlichen Zuneigung zum FCB. Trotzdem wäre es für einen in Zürich geborener Zürcher oft einfacher gewesen, dem FC Zürich die Daumen zu drücken oder, nach einem Gewinn bei den Euro Millions, allenfalls den Grasshoppers. Aber im Leben geht es bekanntlich nicht darum, immer nur das zu tun, was die anderen machen.
Hier schreiben abwechselnd Bruno Ziauddin, Benno Maggi, Bänz Friedli und Benjamin Steffen.